Dienstag, 31. März 2009

Voronezh: Realitäten und Träume
Alltag und Menschenrechtsarbeit in der russischen Provinz


(ein Artikel, den ich für die aktuelle Ausgabe der antirassistischen Zeitschrift ZAG verfasst habe)

Tag für Tag schaue ich im Bus, der mich morgens zur Arbeit und abends wieder nach Hause bringt, in die zahllosen gleichgültig blickenden Gesichter. Es wird kaum geredet, es wird nie gelacht. Den Betrunkenen, dessen Gesicht auf dem Sitz und Beine auf dem Gang liegen, würdigen die Leute keines Blickes. Ab und zu muss jemand über ihn steigen, um einen der begehrten Sitzplätze zu ergattern oder um das Fahrzeug zu verlassen. Vor einer dreiviertel Stunde bin ich eingestiegen, seitdem hat sich der Mann weder bewegt noch einen Laut von sich gegeben. Zwei Stationen bevor ich aussteige, zuckt er sich. Ich bin beruhigt, denn ich dachte, er wäre tot.
Der Alltag in der russischen Stadt Voronezh nimmt mich, die hier ein Jahr als Freiwillige bei der internationalen Organisation Youth Human Rights Movement (YHRM) tätig sein wird, oft sehr mit und gibt mir Stoff zum Nachdenken. Mir stellt sich die Frage, weshalb Menschen bei Vorfällen wie diesen nicht reagieren. Wäre diese Person gestorben, hätten sie und auch ich wegen unterlassener Hilfeleistung eine Mitschuld an seinem Tod getragen.
Voronezh ist eine laute, stinkende und unstrukturierte Stadt. Die knapp 850.000 Einwohner mögen ihren Ort nicht besonders. Das wird mir oft genug gesagt, das sehe ich auch. Vor allem die jungen Leute zieht es zum Geld verdienen nach Moskau, Sankt-Petersburg oder «Europa». Zwar liegt Voronezh auch im europäischen Teil Russlands, aber mit «Europa» ist Westeuropa gemeint und mit Russland selbstverständlich Russland. Meine täglichen Busfahrten führen mich auch an sämtlichen Sehenswürdigkeiten dieser Stadt vorbei: An den drei ewigen Feuern und weiteren sowjetischen Denkmälern, die an die russischen Opfer des Zweiten Weltkrieges und die zweiundneunzigprozentige Zerstörung der Stadt durch die Deutschen erinnern; an der Leninstatue, die eine vergangene Zeit und die damit verbundene Ideologie symbolisiert; auch an der neuen orthodoxen Kirche, die von einem alten sowjetischen Zaun umgeben ist. Überhaupt wird hier noch viel über den Krieg geredet und rote Sterne oder Hammer und Sichel sind ortsprägende Symbole. In der Nachkriegszeit hatte Voronezh jahrzehntelang darum gekämpft sich, neben beispielsweise Kiew und Minsk, Heldenstadt nennen zu dürfen. Im Jahr 2005 wurde ihr der Ersatztitel «Stadt des militärischen Ruhmes» verliehen.
Wenn ich auf die Vergangenheit dieser Provinzstadt zurückblicke, kann ich aktuelle Entwicklungen nicht begreifen. Voronezh zählt nach Moskau und Sankt-Petersburg die meisten rassistisch motivierten Übergriffe. Allein in den letzten fünf Jahren wurden drei Menschen von Nazis umgebracht und 52 Personen angegriffen und verletzt. Zahlreiche Grafittis an Häuserwänden und Mauern propagandieren neben anderen nationalistischen und rassistischen Parolen «Russland den Russen», außerdem fallen geschmierte Hakenkreuze und Runen ins Auge. Für mich ist die Situation ungefährlich. Mir sieht man nicht sofort an, dass ich Ausländer bin. Nur wenn ich beispielsweise in der Öffentlichkeit telefoniere, prallen erstaunte und ungläubige Blicke an mir ab. Die afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Studenten müssen mit anderen Reaktionen rechnen. Ihnen wird aufgelauert und organisierte Hetzjagden sind keine Seltenheit.
Hier, in der russischen Provinz, hat sich vor zehn Jahren YHRM gegründet. Eine Nichtregierungsorganisation, deren Aktivisten sich zum Ziel gesetzt haben, Menschenrechte- und würde mit friedlichen Mitteln zu verteidigen und eine neue Generation von Bürger- und Menschenrechlern auszubilden. Die Bewegung ist in über 30 Ländern in Europa, Asien und Nordamerika, wie zum Beispiel in Armenien, Moldawien, Nepal und den USA, vertreten. Aktive Mitglieder gibt es auch in Deutschland. Die Verwaltung dieses Netzwerks befindet sich in Voronezh. Bisher waren die Aktivisten selten in der eigenen Stadt tätig, denn sie fallen ungern auf, halten sich deshalb lieber zurück. Geplant werden die Projekte alle an Ort und Stelle, aber verwirklicht in einer anderen russischen Stadt. In dem ersten Monat meines Freiwilligendienstes suchte mich ein mir bis dahin noch unbekanntes Mädchen an meinem Arbeitsplatz auf und erklärte, dass sie mit mir außerhalb der Büroräume reden müsse. Sie entschuldigte, später vor der Tür, ihr unfreundliches Verhalten mit ihrer Angst vor den verwanzten Räumen. Und tatsächlich konnte ich beobachten, dass wichtige Gespräche der Menschenrechtler in Cafes oder Restaurants geführt werden. Diese Ängste werden nicht thematisiert, doch sie liegen spürbar in der Luft. Die Projekte sind so unterschiedlich wie die Menschen, die hier arbeiten und teilweise ausschließlich für die Umsetzung ihrer Ideen leben. Es werden Diskussionsrunden, Seminare, Weiterbildungen, manchmal sogar Festivals für Jugendliche und junge Erwachsene, Lehrer und ihre Schulklassen oder die Mitglieder selbst organisiert. Jeder Aktivist ist auf ein, manchmal zwei Themengebiete spezialisiert. Die Einen schwelgen mit den Gedanken in der Vergangenheit, beschäftigen sich mit Themen wie Anti-Stalinismus oder dem Holocaust auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion. Die Anderen bearbeiten gegenwärtige Konflikte und Probleme, wollen Rassismus oder die massive Umweltverschmutzung in diesem Land bekämpfen. Es werden Kriegsdienstverweigerer betreut und über mögliche Alternativen zum Wehrdienst informiert oder Studenten bei der Vorbereitung von Kampagnen über ihre Rechte unterstützt. Im Nebenraum wird gerade heftig über den Mord an Stanislav Markelov, einem russischen Anwalt und Menschenrechtler, der am 19. Januar am hellichten Tag auf offener Straße in Moskau von einem Unbekannten erschossen worden ist, diskutiert. Anastasia Baburova, eine Journalistin, die ihn begleitete, wurde bei diesem Anschlag ebenfalls verletzt und starb noch am selben Tag im Krankenhaus. Eine Gedenkfeier oder ähnliches soll organisiert werden. Ich habe das Gefühl, dass die Aktivisten sich oft vor dem tristen Alltag in die lebendigen Räume des Büros flüchten. Die jüngsten Menschenrechtler im ganzen Land teilen in den Fluren und Zimmern ihre Ideen und verbringen dort auch einen Großteil ihres Lebens. Sie haben Ansichten, die sie kaum mit anderen Personen in ihrem Alter teilen können. Große Schritte wollen sie gehen, doch in kleinen wichtigen verändern sie etwas.
Es ist eine Welt der Gegensätze, die mich hier umgibt und schon manchmal verrückt gemacht hat. Die Leute mit denen ich den Bus teile, haben wie die Menschen, mit denen ich arbeite, eine andere Sicht aufs Leben. Keine bessere, keine schlechtere, doch sie unterscheidet sich von meiner. Die Lebensumstände sind vollkommen anders, ebenso wie die Erziehung und das damit erworbene Geschichtsverständnis. Nichts im Leben ist fair oder selbstverständlich. Ungern verurteile ich, lieber denke ich über die Beweggründe der Personen nach. Meine Russischlehrerin, die hauptberuflich als Professorin an der städtischen Universität arbeitet, erklärte mir schon einige Male, dass Kaukasier zwar einen russischen Pass besitzen, aber eigentlich keine Russen sind oder dass die Menschen seit Jahrhunderten in den Kaukasus oder nach Sibirien verbannt worden sind, weil es dort keine Zivilisation gibt. Die Medien haben ihre Meinung, die hier eine durchaus gängige und somit tolerierte ist, geprägt.
Dass ich Freiwillige bin, erkläre ich nun schon seit über vier Monaten geduldig BusfahrerInnen, VerkäuferInnen, manchmal auch MilizionärInnen. Freiwilligenarbeit ist in dieser Region weitestgehend unbekannt, weshalb mir das Erläutern meiner Aufgaben schwer fällt. Ich bin vielmehr Freiwillige dieser Stadt als von YHRM. Ein Gefühl, dass mich stets begleitet.

Sonntag, 11. Januar 2009

Holodomor - Denkmal fuer die Opfer der Hungersnot 1932/33
der Bogen der Voelkerfreundschaft

auf Lenin ist auch in Kiew Verlass;)